ein viel zu kurzes leben

eine seltene krankheit: kinderdemenz

Vor über einem Jahr wurde bei Tobias Kinderdemenz diagnostiziert. Eine tödliche Krankheit, gegen die es bisher auf dem freien Markt noch kein Medikament gibt. Wie er und seine Mutter Michaela ihren Alltag meistern und die Lust am Leben nicht verlieren.

Seit fast einem Jahr ist Tobi auf den Rollstuhl angewiesen.

Eine Zukunft ohne Tobi gibt es für Michaela nicht.

Nie wieder „Mamaaaaa!“. Junge Eltern brauchen keinen Wecker. In den frühen Morgenstunden reichen die Schreie des Sprösslings, um Mami und Papi aus dem Bett zu werfen. Der Tag beginnt mit einem quengelnden Kind, das an seinem Gitterbett steht und es nicht erwarten kann, durchs Haus zu sausen. Bei Michaela Kirsch (44) aus Wiesbaden ist das nicht so. Ihr Sohn Tobias (5) leidet an Neuronaler Ceroid Lipofuszinose – oder kurz: Kinderdemenz.

Wenn Michaela an den 22. Juni 2014 zurückdenkt, bekommt sie Gänsehaut. Es ist fünf Uhr morgens, als sie aufwacht und ihren Sohn bewegungslos, mit blauen Lippen in seinem Bett findet. Er atmet kaum noch. Tobias erster Krampfanfall. Kein Arzt weiß, was mit ihm nicht stimmt. Zunächst wird Epilepsie diagnostiziert.
Im Jahr 2015 hat Tobias nur zwei Krampfanfälle. Nur zwei  . . .  Ein kleiner Lichtblick für Michaela. Es hätte ein gutes Jahr sein können. Aber ihr Sohn kann immer schlechter gehen. Im Februar 2016 dann die Diagnose: Die Ärzte stellen bei Tobias die seltene Krankheit NCL2 fest — Kinderdemenz. Während Tobi sich in den ersten Lebensjahren normal entwickeln konnte, setzt nun, im Kindergartenalter, die Krankheit ein. Innerhalb kürzester Zeit vergisst sein Körper alles, was er bisher gelernt hat. Motorische und kognitive Funktionen bilden sich zurück, bis er nichts mehr selbstständig tun kann.

 

„Innerhalb von zwei bis drei Wochen hat er gehen, sprechen und trinken verlernt.“

 

„Ich dachte, ich wäre schockiert und könnte nicht mehr aufhören zu weinen.“ erinnert sich Michaela an den Tag der Diagnose. Aber sie hat diesen Gefühlen nicht nachgegeben. Endlich zu wissen, was ihrem Sohn fehlt, macht es ihr möglich, richtig mit Tobi und seiner Krankheit umzugehen. Heute sieht Michaelas Morgen anders aus: Ein lauter Piepton reißt sie schon nachts um drei Uhr aus dem Schlaf. Sie geht in Tobis Zimmer, wo Holzgitter rund um das Bett den Fünfjährigen davor schützen, auf den Boden aufzuschlagen und sich zu verletzen. Der dünne, strohblonde Junge liegt einfach nur still da. Seine blauen Augen wandern wild durch den Raum, als würden sie  nach etwas suchen. Sein Blick bleibt aber nirgendwo hängen. Tobias ist fast blind. Michaela drückt auf einen Knopf, an einem blinkenden, weißen Gerät. Es sieht aus wie ein kleines Radio. Das unangenehme Piepsen verstummt. Von Tobias Fuß baumelt ein Kabel. Es endet in dem Pulsmessgerät. Wenn sein Puls niedrig ist, bedeutet das, dass er tief und fest schläft. Wacht er auf, schießt sein Puls in die Höhe und das Gerät schlägt Alarm — Michaelas Weckruf. Tobias kann nicht mehr sprechen und sich nicht mehr kontrolliert bewegen. Als Michaela ihn aus seinem Bett hievt, kippt sein Kopf nach vorn, weil seine Muskeln die Last nicht mehr tragen können. Nachdem die Krankheit vor eineinhalb Jahren festgestellt wurde, ging es Tobi sehr schnell sehr viel schlechter. Innerhalb von zwei bis drei Wochen hat er laufen, sprechen und trinken verlernt.

Eine Magensonde ist die einzige Möglichkeit, ihn mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen. Direkt nach der Diagnose bekam Tobi eine PEG-Sonde. Während in seinem Bauch ein Ballon jeden Tag die Flüssigkeit aufnimmt, die seine Mama Michaela ihm spritzt, ist außen nur ein kleiner Button über dem Bauchnabel sichtbar. Michaela nennt ihn auch liebevoll „seinen Piercing“. Dieser „Piercing“ hilft Tobi zu trinken. Sein Lieblingsessen ist Pizza. Die gibt Michaela ihm inzwischen aber nur noch püriert, weil er nicht mehr selbst das Besteck halten und kauen kann.

Da Tobias Tag-Nacht-Rhythmus durch die Krankheit gestört ist, schläft er oft nach dem nächtlichen Aufwachen erneut ein. Kurz nach sieben muss Michaela ihren Sohn dann wecken, um ihn für den Kindergarten fertig zu machen: Sie wischt den Schlafsand aus Tobias Augen, streift ihm sein kariertes T-Shirt über und schnürt ihm seine Orthesen fest. Die sollen seine Füße in die richtige Position drücken. Denn Tobias neigt zu einem Spitzfuß. Wird dem nicht entgegengewirkt, muss der Fuß operiert werden. Eine OP für seinen geschwächten Körper? Ein Risiko. Von morgens bis nachmittags muss Tobias sie tragen. Darüber zieht Michaela ihm Schuhe an. Weil Tobias nicht mehr richtig schlucken kann und Spucke an seinen Backen kleben bleibt, bindet sie ihm auch einen Latz um.

Das einzige „besondere“ Kind

 

Seit ihr Sohn krank ist, gestaltet Michaela sein Leben behindertengerecht. Für eine alleinerziehende Mutter ist das eine schwere Aufgabe. Sie hat aufgehört zu arbeiten, zog in eine Erdgeschoss-Wohnung und konnte sich dank einer Spendenaktion ein größeres Auto zulegen. Michaela schnallt den Jungen am Rollstuhl fest und ohne Frühstück geht es in den Kindergarten. Erst dort frühstückt Tobi mit den anderen Kindern. Er besucht den Integrationskindergarten „Tandem“ in Wiesbaden. Als das Auto auf den Parkplatz fährt, kommt ihnen Integrationshelferin Sandra entgegen. Sie hat bereits auf Tobi gewartet. In der Maulwurfsgruppe ist Tobias das einzige „besondere“ Kind, weshalb Sandra sich sehr intensiv um ihn kümmern kann. Während die anderen Kinder Obst und Brote von Zuhause essen, bekommt Tobias von Sandra seinen Brei. Häufig frühstückt er schon herzhaft Püriertes am Morgen. So auch heute. Langsam und löffelchenweise  führt Sandra die pürierten Nudeln an Tobias Mund. Hier bei den „Maulis“ ist er mitten im Geschehen. Die Kinder toben drinnen und draußen. Sie bespritzen sich gegenseitig mit Wasserpistolen und verstecken sich hinter Stühlen, um selbst nicht nass zu werden. Da bleibt auch Tobi nicht trocken. Er ist in seinen Rollstuhl festgeschnallt und starrt ins Leere. Als ihn ein Wasserstrahl am Ohr trifft, zuckt sein Kopf zur Seite und seine kleinen Finger spreizen sich weit auseinander. Auch wenn er nicht mit den anderen Kindern rennen und lachen kann, spürt er ihre Anwesenheit. Dass die Kinder ihn so in ihrer Gemeinschaft akzeptiert haben, freut natürlich auch die Integrationshelferin: „Tobi ist einfach Tobi. Das wissen sie.“

Zwischen 15 und 16 Uhr holt Michaela ihren Sohn wieder ab. Wie der restliche Tag verläuft, hängt von Tobis Zustand ab: Wirkt er fit, bummelt Michaela gerne mit ihm über Flohmärkte oder macht lange Spaziergänge. Gelaufen ist Tobi vor seiner Krankheit immer gern. Oft werden die beiden von Tobias Freund Sam und seiner Mama begleitet. Sam kennt Tobi noch, als er gesund war, aber ist auch jetzt noch ein toller Spielkamerad für ihn. Er zeigt ihm bunte Bilder in Büchern oder erzählt ihm von seinen Erlebnissen der letzten Woche. Tobi antwortet nie. Aber Sam nimmt seine Hand und redet einfach weiter. Insgesamt hat das Umfeld positiv auf die Krankheit reagiert.  Michaelas Freundeskreis akzeptiert Tobi so, wie er ist. Auch den älteren Kindern erklärte man, dass NCL den Fünfjährigen verändern wird. Über ihre Familie und über Tobias Vater spricht Michaela dagegen nur sehr ungern. Von dieser Seite blieb die erhoffte Unterstützung aus. Ihre „Erdenengel“, wie sie sie nennt, fand Michaela im engeren Freundeskreis. Sie sind für sie zu Familie geworden.

Zwischen Alltag und Angst

 

Einige von ihnen kennen Tobi noch als fröhlichen, charmanten Jungen, bevor die Krankheit ausbrach. „Er kann vieles nicht mehr, aber seinen grundlegenden Charakter hat die Krankheit nicht verändert. Er ist immer noch charmant und hat jede Menge Ausstrahlung.“ weiß seine Mutter. Hat Tobias früher wild zur Melodie der TV-Serie „Spongebob Schwammkopf“ getanzt, zeigt er auch heute noch körperliche Regungen, durch kleine Zuckungen, wenn sein Lied ertönt. Manchmal lächelt er.
Das sind dann die schönen Momente. Michaela hat gelernt, sich an den kleinen Dingen zu erfreuen: Wenn Tobi ihren Händedruck erwidert, oder dass sie weiß, ihrem Sohn durch den Kindergarten ein kleines Stück Alltag zu geben. Krampffreie Tage. Ein Tag ohne Anfall ist ein guter Tag.

„Verloren habe ich nichts. Mein Sohn hat etwas verloren. Und ich habe meinen Sohn.“ Und um dessen Lebensqualität weiter zu erhalten, sorgt Michaela dafür, dass er die nötige Therapie bekommt. Neben der wöchentlichen Routine-Untersuchung beim Arzt bekommt Tobias jeden Montagmorgen eine Doppelbehandlung Ergo- und Physiotherapie. Seit zwei Monaten arbeitet Physiotherapeutin Susann mit ihm Zuhause: „Alltag ist nun mal nicht in der Praxis.“ weiß sie und ist deshalb nur allzu gern bereit, Hausbesuche durchzuführen. Einfache Übungen, wie auf Arme und Ellenbogen aufstützen, sich nach vorne beugen oder aufrecht sitzen ohne sich stark anzulehnen, bedeuten einen enormen Kraftaufwand für Tobias. Deswegen muss die Physiotherapeutin zwischendrin immer wieder kurze Pausen einlegen. Die Übungen auf einem Erdnuss-Ball oder auch auf dem Sofa sitzend, dienen jedoch der Kräftigung der Bauch-, Rücken- und Armmuskulatur und sind sehr wichtig für den Fünfjährigen. „Man will eigenaktives Tun wieder herstellen. Eigenmuskulatur stärken.“ Physiotherapeutin Susann ist bereits ein eingespieltes Team mit Ergotherapeutin Victoria. Bei der Ergotherapie geht es dann mehr um die Feinmotorik und um das Schärfen der Sinne. Sehen, greifen, sich selbst fühlen und hören soll hier gefördert werden. Indem man immer wieder Bewegungsabläufe zur Muskulatur-Stärkung wiederholt, soll das Vergessen eingedämmt werden. Besonders wichtig für NCL-Kinder ist es auch, den Schluck-Rhythmus und die Zungenmuskulatur zu trainieren, damit Tobias den Speichel schlucken kann und nicht erstickt. Jeden Dienstag übt Logopäde Frank das fleißig mit Tobi. Es ist auch wichtig, dass er nicht verlernt, den Kopf aufrecht zu halten und die Gesichtsmuskulatur zu entspannen. Mit diesen Therapien soll der  „Zerfall“ so lange wie möglich herausgezögert werden.

Das Wort „Angst“ hat Michaela aus ihrem Wortschatz gestrichen. Stattdessen hat sie es durch Sorge ersetzt. Welche Eltern sorgen sich nicht um ihre Kinder? Sorge klingt doch sehr normal. Und das wünscht sich Michaela: Ein Stück weit Normalität.
Sie hat Hoffnung, dass in der Forschung Fortschritte erzielt werden und Tobias vielleicht einige Fähigkeiten wiedererlangt. Diese Hoffnung lässt sie morgens mit einem positiven Gefühl in das Zimmer ihres Sohnes gehen und das piepsende Pulsmessgerät ausschalten. Doch die Chancen stehen schlecht. Kinderdemenz ist eine tödliche Krankheit, sie beendet das Leben der Kinder meist früh. Ein viel zu kurzes Leben!

Für Bildunterschrift klicken

Dr. rer. nat. Frank Stehr

1. Vorsitzender der NCL-Stiftung Hamburg

Studierte Biochemie/ Molekularbiologie in Hamburg

Er verantwortete den Bereich „Forschung“ der NCL-Stiftung für 9 Jahre

Seit dem 22. März 2013 ist er Vorstand der Stiftung

„Für mich ist dieser Beruf mehr Berufung in dem Fall, weil ich einerseits das naturwissenschaftliche Verständnis anwenden kann und das wiederum in einem sozialen Bereich.“

Interview mit Dr. Frank Stehr

 

 

Was versteht man unter der Krankheit „NCL“?

NCL steht für „Neuronale Ceroid Lipofuszinose“, vereinfacht bezeichnen wir diese Krankheit als Kinderdemenz. Kinder, die an der sogenannten „Juvenilen Form“ leiden,  entwickeln sich bis zum Einschulalter altersgerecht. Man geht als Eltern mit den Kindern zum Kinderarzt, diese U-Untersuchungen finden statt und es gibt keine weiteren Auffälligkeiten. Dann geht es relativ harmlos los, dass die Kinder auf einmal schlechter sehen. Daher ist die erste Anlaufstation der Augenarzt. Dieser verwechselt die Krankheit häufig mit anderen Augenerkrankungen, weswegen die endgültige Diagnose oft sehr lange auf sich warten lässt. Parallel findet ein geistiger Abbau statt. Das Kurzzeitgedächtnis der Kinder ist gestört, weil die Nervenzellen des Gehirns absterben. Die Demenz setzt ein und sie vergessen eigentlich das, was sie gerade gelernt haben. Hinzu kommen dann auch mit der Zeit motorische Probleme: Epileptische Anfälle und ein Rollstuhl sind die Folge. Außerdem treten schwere Sprachprobleme auf. Die Jugendlichen haben noch ein Sprachverständnis, können sich aber selber nicht mehr ausdrücken. Sie bekommen mit, dass sie nicht mehr verstanden werden und das kann zu schweren psychischen Problemen, Aggressionen und Depressionen führen.

 

Warum bezeichnet man diese Krankheit als „Kinderdemenz“?

In diesem Falle ist es wirklich kein medizinischer Fachbegriff, sondern ein Begriff, den wir geprägt haben, um die Krankheit bekannter zu machen. Denn unter „Neuronaler Ceroid Lipofuszinose“ kann sich fast niemand etwas vorstellen und sich auch keiner diese Krankheit merken. Wir haben einen wesentlichen Krankheitsbestandteil, die Demenz, herausgegriffen. Die Betroffenen sind hier eben Kinder und Jugendliche und nicht, wie man es normalerweise beispielsweise bei Alzheimer kennt, ältere Leute.

 

Warum bekommt ein Kind NCL?

NCL wird in der Regel autosomal-rezessiv vererbt. Vater und Mutter sind beide Träger für eine NCL-Erkrankung, jedoch kommt es bei ihnen nicht zum Ausbruch. Jedes Gen kommt in der Zelle zweimal vor. Auch das NCL-Gen. Bei den Eltern ist jeweils eines intakt und das andere fehlerhaft. Von Vater und Mutter wird jeweils immer ein Gen weitergegeben. Bei der autosomal-rezessiven Vererbung besteht deshalb ein 25-prozentiges Risiko, dass das Kind sowohl von Vater als auch von der Mutter das kaputte Gen bekommt und damit zwei kaputte NCL-Gene hat. Dann kommt es zum Ausbruch der Krankheit, da das Lysosom, oder auch der sogenannte Recyclinghof der Zelle nicht mehr funktioniert. Anscheinend gerade die Seh- und die Nervenzellen haben damit große Probleme. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Nervenzellen sich nicht mehr teilen. Das heißt, sie haben das Problem, dass sich der „Zellmüll“ anhäuft. Sie können es nicht verdünnen, nicht auf ihre Tochterzellen verteilen und irgendwann gehen diese komplizierten Strukturen, diese komplizierten Zellen, daran einfach zugrunde.

 

Welche Formen der Krankheit unterscheidet man und welche ist die Schlimmste? 

Mittlerweile sind 13 verschiedene NCL-Gene bekannt. Die sind alle so durchnummeriert worden. Abhängig davon, welches Gen betroffen ist, kann die Krankheit früher ausbrechen und auch schneller zum Tod führen. Bei der „Juvenilen Form“, deswegen heißt sie auch so, geht es eben im Jugendalter los. Die Kinder, bzw. die jungen Erwachsenen, werden nicht älter als 20-30 Jahre alt. Es gibt aber Formen die schon im Kleinkindalter anfangen. Der Verlauf kann also sehr unterschiedlich sein. Die Symptome sind aber sehr ähnlich: Das Erblinden, die Epilepsie, die Demenz und die motorischen Probleme – aber sie müssen nicht in der gleichen Reihenfolge auftreten. Gemeinsam haben sie alle, dass da ein Gen-Defekt vorliegt.
Für die Eltern bedeutet es, dass ihr Kind sterben wird. Vielleicht ein bisschen schneller oder ein bisschen später. Aber ich glaube, da kann keiner beurteilen, welche Form jetzt die schlimmste ist.

 

Was führt letztendlich zum Tod des Kindes?

Das kontinuierliche Absterben der Nervenzellen. Bei der „Juvenilen“ Form weiß man, dass später auch noch weitere Probleme, außerhalb des zentralen Nervensystems, auftauchen können. Beispielsweise Herz-Rhythmus-Störungen, sodass der eine oder andere Patient einen Herzschrittmacher bekommen hat und dadurch zumindest eine kurzzeitige Verbesserung stattgefunden hat. Der Körper wird insgesamt geschwächt. Das heißt, die Patienten sind irgendwann vollständig bettlägerig. Damit sind weitere Probleme verbunden: Zum Beispiel die schwierige Entscheidung der Eltern, ob bei auftretenden Schluckbeschwerden eine Magensonde gelegt werden soll, um noch genügend Nahrung und Flüssigkeit zuführen zu können. Wenn eine Magensonde gelegt wird, dann können die Patienten noch etwas länger leben, aber es ist eben das letzte Stadium der Krankheit, was dann in diesem Falle verlängert wird. Der Tod kann dann letzten Endes durch Vertrocknen eintreten. Es kann aber auch aufgrund einer Epilepsie sein, oder dass eine schwere Infektion auftritt, gegen die sich der geschwächte Körper nicht mehr zur Wehr setzen kann.

 

Kann man irgendetwas tun, um der Krankheit vorzubeugen?

Dadurch, dass es ein Gendefekt ist, kann man schwerlich präventiv etwas machen. Es gibt keine Impfung, um zu sagen „okay dann bekomme ich jetzt kein NCL“. Rein theoretisch, um präventiv vorzugehen, wäre eine sogenannte präkonzeptionelle Diagnostik notwendig. Das hieße, dass sich Vater und Mutter vorher testen lassen, ob sie Träger für NCL sind. Dadurch, dass die Krankheit autosomal-rezessiv vererbt wird, ist es in der Regel aber so, dass in der Familiengeschichte vorher noch kein NCL-Fall aufgetaucht ist. Deshalb würde man die Veranlagung gar nicht erst vermuten und nicht darauf testen.

 

Warum glauben Sie, ist diese Krankheit noch relativ unbekannt?

Das Hauptproblem ist, dass es eine seltene Krankheit ist. Wir gehen davon aus, dass in Deutschland jedes Jahr ca. 20 Fälle neu hinzukommen. Es gibt 5.000-8.000 verschiedene seltene Krankheiten. Augen- und Kinderärzte kennen diese Krankheit oft nicht. Gerade mit den anfänglichen Sehschwierigkeiten wird es auch schnell mit anderen Augenerkrankungen verwechselt. Trotzdem steigt das Wissen über die Krankheit hier in Deutschland stetig an, sodass über die letzten Jahre auch mehr Fälle diagnostiziert wurden.

 

Was leistet die Stiftung?

Die NCL-Stiftung hat verschiedene Schwerpunkte, für die sie sich einsetzt. Zum einen geht es um den Bereich Fortbildungsarbeit bzw. Aufklärungsarbeit bei Ärzten, zum anderen aber auch um den Bereich Forschung und Forschungsförderung. Im Bereich Fortbildung ist es so, dass wir Infoblätter haben, die wir über Kongresse verteilen. Wir haben einen Lehrfilm entwickelt, für Augen- und Kinderärzte, der auch von der Ärztekammer zertifiziert wurde. Das heißt Ärzte, die an diesen Online-Fortbildungen teilnehmen, bekommen Fortbildungspunkte dafür. Ich gehe auch an Augenkliniken oder Kinderkliniken und halte dort Vorträge vor den Ärzten und informiere sie über diese Krankheit. Genauso versuchen wir Publikationen in Fachmagazinen anzustoßen, damit auch häufiger über NCL berichtet wird. Bei den Jahrestagungen der NCL-Selbsthilfegruppe berichten wir den Familien über den aktuellen Stand der Forschung. Oder, wenn wir Aufklärungsarbeit bei Ärzten leisten, fragen wir auch Familien, ob sie uns unterstützen können und den Krankheitsverlauf aus Sicht betroffener Eltern schildern.

 

Was ist Ihr Ziel in den nächsten fünf Jahren?

Die Stiftung versucht sich, gerade im Bereich der Aufklärungsarbeit, intensiv einzusetzen, um eine frühzeitige Diagnose dieser Krankheit zu ermöglichen. Man weiß mittlerweile, dass bestimmte Medikamente, die gegen Epilepsie verwendet werden, den Krankheitsverlauf von NCL verschlechtern können. Und andere Medikamente wiederum gut vertragen werden. Außerdem ist es für die Familie auch wichtig zu wissen, dass es eine Erbkrankheit ist. Also auch bei weiterem Kinderwunsch zu wissen, dass immer ein Risiko von 25 Prozent besteht, dass das weitere Kind auch NCL bekommen kann.
Es zeigt sich, dass jetzt gerade im Bereich der Gentherapie sehr viel getan wird,  sodass wir davon ausgehen, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre erste klinische Studien durchgeführt werden. NCL ist eigentlich prädestiniert für eine so genannte Gentherapie, um die Ursache zu bekämpfen. Der Gedanke dabei ist, dass man den Zellen ein intaktes NCL-Gen zuführt. Bei den Eltern sehen wir ja, dass ein intaktes Gen ausreicht, damit die Zelle funktioniert. Bei dieser Gentherapie-Entwicklung wird sich gerade in den nächsten Jahren sehr viel tun und hoffentlich können wir damit den Kindern dann auch helfen.

Fakten zu „Kinderdemenz“

NCL (Neuronale Ceroid Lipofuszinose) ist eine Stoffwechsel-Krankheit, die das zunehmende Absterben von Nervenzellen zur Folge hat. Das führt bei den Betroffenen zu Erblindung, geistigem Abbau, motorischen Störungen, Epilepsie und vorzeitigem Tod.

In Deutschland gibt es rund 700 NCL-Kinder. Weltweit sind es etwa 70.000.

Mittlerweile sind 13 verschiedene NCL-Gene bekannt.
Die häufigsten Formen in Deutschland sind

  • die Infantile Form (CLN1), die bei Babys auftritt,
  • die Spätinfantile Form (CLN2), die bei Kleinkindern vorkommt
  • die Juvenile Form (JNCL), die sich erst im Jugendalter zeigt.
    Abhängig davon, welches Gen betroffen ist, kann die Krankheit früher ausbrechen und auch schneller zum Tod führen. Gemeinsam haben alle Formen, dass ein Gen-Defekt vorliegt.
  • NCL wird durch einen Fehler im Erbmaterial verursacht. Diese Genmutation führt dazu, dass das für den natürlichen   Stoffwechsel erforderliche Protein defekt ist und der sogenannte „Recyclinghofe der Zellen“ nicht mehr funktioniert. Als Folge davon verdreckt die Zelle und stirbt ab.
  • Die NCL-Stiftung versucht in Kooperation mit anderen (inter-)nationalen Forschungsprojekten die Forschungs- und Aufklärungsarbeit voranzutreiben. Die gemeinnützige Stiftung setzt sich aktiv „Für eine Zukunft ohne Kinderdemenz“ ein.
  • Betroffene Eltern und Angehörige finden nach der Diagnose und nach dem Tod des Kindes bei der NCL-Selbsthilfegruppe die nötige Unterstützung.

die autorin

text & bild  lena erhardt