Gegen das System

Nächste Ausfahrt: Deutsches Reich

„Wir haben kein Problem mit Reichsbürgern, wir haben ein Problem mit rechtsradikalen Verschwörungstheorien!“

„Wir haben kein Problem mit Reichs­bürgern, wir haben ein Problem mit rechts­radikalen Verschwörungs­theorien!“


von Thomas Balbierer, Markus Renz und Tim Ruben Weimer

Acht Monate unter rechtsradikalen Reichsbürgern – der Autor und Theaterregisseur Tobias Ginsburg tauchte für sein Buch „Die Reise ins Reich. Unter Reichsbürgern“ ab in eine Welt voller Verschwörungstheorien, Esoterik und Reichsmelancholie. Tobias Ginsburg wurde zum Journalist der alternativen Szene: Getarnt als „Tobias Patera“ täuschte er auf seiner Website vor, den „Kampf nach Wahrheit, Freiheit und Souveränität“ vorantreiben zu wollen. Mithilfe dieser Scheinidentität wurde er Teil geheimer Staatsrevolten, emotionaler Nazi-Lagerfeuerabende und Reichstagsbelagerungen. Einsteins hat ihn bei einer Lesung in München getroffen und mit ihm über seine Erlebnisse während der Recherche gesprochen.

EINSTEINS: Herr Ginsburg, Sie haben acht Monate unter Reichsbürgern recherchiert. Wie viel Reichsbürger steckt jetzt in Ihnen?

Tobias Ginsburg: Gar nichts. Man hat diese Vorstellung, dass es auf einen abfärben könnte, wenn man sich mit diesem düsteren Gedankengut auseinandersetzt, und da ist sicherlich was dran. Der Mensch will in seiner Umgebung Muster erkennen, und der Verschwörungstheoretiker lässt diesem Impuls einfach völlig freien Lauf. Diese Denkweise – oder ihre Attraktivität – habe ich durchaus verstanden.

„Sie glauben, das deutsche Volk sei Opfer einer weltweiten Verschwörung.“

Aber im Kontakt mit Reichsbürgern sieht man unmittelbar die Gefahr, die von dieser Denkweise ausgeht: Es handelt sich um Menschen, die glauben, das deutsche Volk sei Opfer einer weltweiten Verschwörung, die ihnen das Land weggenommen habe. Viele von ihnen glauben, in Notwehr zu handeln. Diese Überzeugungen können einem regelrecht Angst machen. Im direkten Kontakt mit Reichsideologen bekommt man es also eher mit dem Fürchten zu tun. Und oft genug mit Mitleid.

Lassen Sie uns ein wenig an Ihren Begegnungen teilhaben. In Berlin haben Sie Rüdiger Klasen getroffen, den Betreiber der Reichsbürgerwebsite staatenlos.info.

Rüdiger Klasen ist vielleicht genau das, was man sich gemeinhin unter Reichsbürgern vorstellt: Ein kurioser, schriller und völlig irre wirkender Extremist, der glaubt, Juden und Amerikaner – die Verschwörer – hätten uns unter ihrer Fuchtel. Zusammen mit seinen Leuten steht er nun schon seit Jahren vorm Reichstag, brüllt in kuriosen Kostümen seine Parolen, nervt die armen, verschreckten japanischen Touristen und kam groß in die Presse als Xavier Naidoo ihm einen Besuch abstattete, weil … Naidoo offenbar die Meinung des ehemaligen Naziterroristen interessant findet.

Was fasziniert Menschen an Rüdiger Klasen?

Klasen ist ein ehemaliger NPD-Kader, der Anfang der 90er Jahre ein Flüchtlingsheim anzünden ließ. Ein ehemaliger Rechtsterrorist, der aber mit einer Sache symptomatisch für die ganze ultrarechte Szene steht. Nämlich die glorreiche Idee zu sagen: „Ich bin kein Nazi. Ihr seid die Nazis! Ich bin der Widerstand.“ Der Staat und die Alliierten seien die eigentlichen Faschisten. Diese Verdrehung ist als Taktik auch bei der Neuen Rechten zu finden. Auch in Teilen der AfD findet sich immer wieder die Rhetorik, man kämpfe als Widerständler gegen „Meinungsdiktatur“ und „Gutmenschenfaschismus“. Leider funktioniert das sehr gut, und so konnte auch Klasen eine Anhängerschaft um sich scharen. Auch wenn es bei ihm zum großen Teil Menschen sind, die am Rande des Existenzminimums leben, gehören dazu viele verwirrte Leute. Sie spenden ihr letztes Kleingeld an Klasen und für seine kuriose Sache.

Im Buch stellen Sie uns eine dieser Figuren näher vor: Jimmy.

Jimmy ist ein Anhänger von Klasen. Ein somalisch-stämmiger, wohnungsloser Junge, der über die Mahnwachenbewegung in Klasens Fänge geriet. Plötzlich stand er eben nicht mehr umsonst auf der Straße, sondern gegen die Amerikaner und Verschwörer. Ein wirklich armer, verzweifelter und bemitleidenswerter Mensch, der seinen Guru still bewundert. Während dieser manisch rumkrakelt, mit einer Klobürste herumwedelt oder seine blöden Gummienten rumschleudert.
Menschen wie Jimmy begreifen nicht, in was für einem ideologischen Fahrwasser sie sich bewegen. Die Bruchstücke von den rechtsradikalen und offen antisemitischen Verschwörungstheorien, die er mitbekommt, scheint er – wenn überhaupt – nur ansatzweise zu verstehen. Wie übergriffig und brutal der ehemalige NPD-Mann mit ihm umgeht, wie Klasen dann auch rassistische Witze über ihn macht – auch das hat Jimmy nicht begriffen.

Sie schreiben, es habe Ihnen fast das Herz vor Mitleid zerrissen.

Ja, das war einer dieser Momente, in denen ich dachte: „Scheiße, dich krieg ich hier raus!“ – Das hab ich wirklich gedacht! Aber man kann nicht viel tun. Sektenberatungsstellen können einem bloß raten, den Kontakt und den Alltag mit betroffenen Personen aufrecht zu halten.

Wie vielen Jimmys sind Sie begegnet?

Erschreckend vielen. Menschen, die vermutlich Hilfe bräuchten. Sie projizieren ihre eigenen Probleme auf die Welt, um sich und die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Aber leider Gottes reicht das Spektrum von derart verzweifelten, einsamen oder kranken Menschen über Ideologen verschiedenster Couleur und sozialer Hintergründe bis tief ins Bürgertum.

Was eint diese Menschen dann?

Im Endeffekt ist es die Ablehnung der pluralistischen Gesellschaft, der parlamentarischen Demokratie, der offenen Gesellschaft. Und es ist der absolute Glaube, dass wir – die Deutschen – belogen werden. Natürlich muss ich jetzt auch den Antisemitismus nennen, allerdings wird in der Szene mit antisemitischen Codes und Chiffren hantiert, die nicht alle kapieren. Ich könnte auch das faschistische Gedankengut nennen, aber es gibt eben Menschen, die auch dem anhängen, ohne es als solches zu verstehen.

Sie haben sich während Ihrer Recherchen als „Tobias Patera, Journalist der alternativen Szene“ ausgegeben. Warum haben Sie sich für diese investigative Art der Recherche entschieden?

Abgesehen davon, dass man mit den meisten dieser Menschen nicht einfach als Außenstehender in Kontakt treten kann, erfährt man vieles natürlich auch erst in privater Runde. Da kann ein bürgerlicher Typ anfangs sagen: „Ich bin ein paneuropäischer Identitärer mit nationalistischer Neigung“, aber nach ein paar Bier zeigt der dann den Hitlergruß. Das ist der Unterschied, ob du von der Presse kommst oder ob du ein paar Bierchen mit den Leuten trinkst.

Also achten Anhänger dieser Bewegungen sehr darauf, wem sie wann was sagen?

Ja, auch wenn natürlich der Raum des Sagbaren immer größer wird und die scheinbaren Provokationen von Rechts immer heftiger werden. Wobei das natürlich Teil der Taktik ist. Und man darf nicht unterschätzen, dass vieles von dem Gesagten keine Provokation ist, sondern wirkliche Überzeugung. Wenn Gauland von einer Kanzler-Diktatorin spricht, ist sowas nicht notwendigerweise Strategie! Das können wir uns nur nicht vorstellen, dass jemand wirklich glaubt, Angela Merkel sei eine Diktatorin. Aber diese Option gibt es. Und das ist halt das, was Tobias Patera in Erfahrung bringen konnte, Tobias Ginsburg nicht.

Welche Rolle hat Ihr jüdischer Glaube für die Recherche gespielt?

Ich bin ein deutscher Jude, es ist für mich also wirklich keine Neuigkeit, dass es Antisemitismus in Deutschland gibt. Aber dass der wahnhafte Verschwörungsglaube noch immer grassiert – und das weit über die sogenannte Reichsbürgerszene hinaus – das ist erschreckend. Gleichzeitig fragt man sich, ob man sich nicht einer bescheuert großen Gefahr aussetzt: Was passiert, wenn es auffliegt? Es war also Katalysator und Hemmung zugleich, denn natürlich ist da der Reiz zu sehen und zu verstehen, was für Menschen einen hassen.

Ihre Reise begann im sogenannten „Königreich Deutschland“ – einem ehemaligen Krankenhausgelände, das Reichsnostalgiker zum autonomen Territorium erklärt hatten – und führte Sie immer weiter in die Mitte der Gesellschaft. Hat Sie irgendwann die Sensationslust gepackt?

Sicherlich spielt das mit. Auch dieses Gefühl, ich befände mich auf einer Reichsbürgersafari: „Ich muss sie alle kennenlernen! Ich muss das ganze Phänomen beschreiben können! Ich werde jeden Einzelnen treffen! Wir haben bislang keine konkreten Zahlen, aber ich werde dem Verfassungsschutz eine Zahl nennen können!“ Gleichzeitig ging es darum, der Verbreitung solcher rechtsextremen Theorien hinterher zu spüren. Auch diese Suche ließ mich nicht los. Wie weit das reicht, lässt sich etwa an der Verschwörungstheorie der Umvolkung gut festmachen. Das ist die völlig bescheuerte Vorstellung, durch Migration und gelenkte „Flüchtlingsströme“ solle das deutsche Volk oder gleich die ganze weiße Rasse unterjocht oder gar ausgerottet werden.

„Wir haben kein Problem mit Reichs­bürgern, wir haben ein Problem mit rechts­radikalen Verschwörungs­theorien!“

Die kennen wir so auch von bestimmten Protagonisten der AfD und der neuen Rechten. Und je nachdem, wen Sie fragen, soll hinter der Verschwörung natürlich der jüdisch-amerikanische Milliardär George Soros oder die Rothschilds stecken, wer auch sonst. Wie kann es sein, dass so eine krude Vorstellung so verbreitet ist? Was ist die Grundlage dafür? Das zu sehen, war mein Wunsch. Meine Reise hat ja eine Dramaturgie: Ich beginne bei den absoluten Randfiguren, im Narrensaum der Gesellschaft. Und je weiter ich reise, desto normaler und bürgerlicher werden die Menschen. Drum sage ich es ganz deutlich: Wir haben kein Problem mit Reichsbürgern, wir haben ein Problem mit rechtsradikalen Verschwörungstheorien!

Was haben Sie aus Ihren Recherchen für sich persönlich mitgenommen?

Dass wir durch den Begriff Reichsbürger – so schwierig und ungenau er sein mag – eine Linie ziehen. Da ist etwas, das wir nicht akzeptieren können für unsere Gesellschaft. Und das ist erst mal etwas Positives. Wenn wir jetzt aber verstehen würden, was sich hinter diesem Begriff verbirgt, dann würden wir merken, dass es ein größeres Problem ist. Wenn wir genau definieren, was die Reichsbürgerbewegung und Reichsideologie ist, dann müssten wir die Grenze nicht vor diesem Narrensaum ziehen, dann müssten wir über die Mitte der Gesellschaft sprechen.

Was bedeutet das konkret für unsere Gesellschaft?

Die Fokussierung auf Oberflächenphänomene ist problematisch. Ich halte es für regelrecht gefährlich, wenn ich noch einen Beitrag sehen muss, wo ein Rüdiger Klasen in der Gegend herumspringt und in die Kamera brüllt. Und dann wird gesagt: „Das sind also die Reichsbürger. Sie glauben an die Grenzen von 1937.“ So pauschal ist das einfach faktisch falsch und bloß das Symptom. Wir als Gesellschaft müssen begreifen, was für Strategien dahinter stecken. Was stehen da für Denkweisen, für Ideologien dahinter? Wo sind klare Kontinuitäten? Diese Lücke muss mit Wissen gefüllt werden.


Im EINSTEINS Print-Magazin lernt ihr in der Reportage „Mensch Andreas“ den Reichsbürger Andreas P. kennen.


Wie waren die Reaktionen in der Szene, nachdem Ihr Buch erschienen ist?

Natürlich ist die Szene wenig erfreut, natürlich erhalte ich entsprechend fiese E-Mails und Nachrichten. Aber ich verstecke mich nicht und lasse mich nicht einschüchtern. Ich antworte auf jede E-Mail und jede Facebook-Nachricht. Ich versuche diesen Menschen – egal, was sie über mich schreiben und gegen mich schreiben – menschlich zu begegnen, freundlich, aber klar in der Sache. Aber darauf bekomme ich eigentlich so gut wie nie mehr eine Antwort.

Wird es eine Reise ins Reich Teil zwei geben?

Nein. Oh, nein!

Was ist aus Tobias Patera – Ihrer Scheinidentität – geworden?

Tobias Patera ist gestorben, während eines Gesprächs in einem Lokal am Ende meines Buches. In einzig logischer Konsequenz hätte er sich da sonst Möchtegernterroristen anschließen müssen. Außerdem wurde der Selbstekel zu groß. Da habe ich ihn umgebracht.